Der Fischer (Johann Wolfgang von Goethe)

Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll,
Ein Fischer saß daran,
Sah nach dem Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan.
Und wie er sitzt und wie er lauscht,
Teilt sich die Flut empor:
Aus dem bewegten Wasser rauscht
Ein feuchtes Weib hervor.
 
Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:
»Was lockst du meine Brut
Mit Menschenwitz und Menschenlist
Hinauf in Todesglut?
Ach wüßtest du, wie’s Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,
Du stiegst herunter, wie du bist,
Und würdest erst gesund.
 
Labt sich die liebe Sonne nicht,
Der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenatmend ihr Gesicht
Nicht doppelt schöner her?
Lockt dich der tiefe Himmel nicht.
Das feuchtverklärte Blau?
Lockt dich dein eigen Angesicht
Nicht her in ew’gen Tau?«
 
Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll,
Netzt’ ihm den nackten Fuß;
Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll
Wie bei der Liebsten Gruß.
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da war’s um ihn geschehn;
Halb zog sie ihn, halb sank er hin
Und ward nicht mehr gesehn.

Die Meerjungfrau

Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll
im tiefen dunklen Schacht,
in einer Welt, geheimnisvoll,
von Menschenhand gemacht.
Dort haust nun schon seit jener Zeit
in brackig-braunem Schlamm
die Meerjungfrau voll Traurigkeit,
da sie vom Meere kam.
 
Sie spricht zu uns, wir hören's nicht,
und tot ist längst die Brut,
sie wurde schmackhaftes Gericht,
gegrillt auf Kohleglut.
Die Meerjungfrau hat überlebt,
im Klärschlamm auf dem Grund,
vor Zorn und Traurigkeit sie bebt,
die Schuppen stumpf und wund.
 
Die Sonne sticht uns ins Genick,
das Meer ist Plastiks Grab,
des Menschen baldiges Geschick
sinkt mit dem Schlamm hinab,
damit aus quellendem Abort
es auf den Hochmut speit,
und letzte Fluten spülen fort
des Menschen Herrlichkeit.
 
Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll,
zu Ende ist der Spaß!
Die Menschheit längst vom Wahnsinn toll
beißt salzig-trocknes Gras.
Die Meerjungfrau, sie sang ihr Lied,
dann war's um sie gescheh'n:
Es war der Mensch, der sie verriet -

sie ward nie mehr geseh'n!

 

 

(04.07.2022)


Das Original in der ersten Spalte stammt von Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832).