Der zu früh geborene Dichter (Annette von Droste-Hülshoff)

Acht Tage zählt' er schon, eh ihn
Die Amme konnte stillen,
Ein Würmchen, saugend kümmerlich
An Zucker und Kamillen,
Statt Nägel nur ein Häutchen lind,
Däumlein wie Vogelsporen,
Und jeder sagte: »Armes Kind!
Es ist zu früh geboren!«
 
Doch wuchs er auf, und mit der Zeit
Hat Leben sich entwickelt,
Mehr als der Doktor prophezeit,
Und hätt' er ihn zerstückelt;
Im zähen Körper zeigte sich
Zäh wilder Seele Streben;
Einmal erfaßt - dann sicherlich
Hielt er, auf Tod und Leben.
 
In Büchern hat er sich studiert
Hohläugig und zuschanden,
Und durch sein glühes Hirn geführt
Zahllose Liederbanden.
Ein steter Drang - hinauf! hinauf!
Und ringsum keine Palme;
So klomm er an der Weide auf
Und jauchzte in die Alme.
 
Zwar dünkt ihn oft, bei trübem Mut,
Sein Baldachin von Laube
So köstlich wie ein alter Hut,
Wie 'ne zerrissne Haube;
Allein dies schalt man »eitlen Drang,
Mit Würde abzutrumpfen!«
Und alles was er sah, das sang
Herab vom Weidenstumpfen.
 
So ward denn eine werte Zeit
Vertrödelt und verstammelt,
Lichtblonde Liederlein juchheit
Und Weidenduft gesammelt;
Wohl fielen Tränen in den Flaum
Und schimmerten am Raine,
Erfaßte ihn der glühe Traum
Von einem Palmenhaine.
 
Und als das Leben ausgebrannt
Und fühlte sich vergehen,
Da sollt' wie Moses er das Land
Der Gottverheißung sehen:
Er sah, er sah sie Schaft an Schaft
Die heil'gen Kronen ragen,
Und drunter all die frische Kraft
Der edlen Sprossen tragen.
 
Und Lieder hört' er, Melodien,
Wie ihm im Traum geklungen,
Wenn ein Kristall der Gletscher schien
Und Adler sich geschwungen;
Durch das smaragdne Riesenlaub
Sah er die Lyra blinken
Und über sie gleich goldnem Staub
Levantes Äther sinken.
 
O, wie zusammen da im Fall
Die alten Töne schwirrten,
Im Busen die Gefangnen all
Mit ihren Ketten klirrten!
»Ha, Leben, Jahre! und mein Sitz
Ist in den Säulenwänden,
Auch meine Lyra soll den Blitz
Durch die Smaragden senden!«
 
Ach, arme Frist, an solchem Schaft
Mit mattem Fuß zu klimmen;
Die Sehne seiner Jugendkraft,
Vermag er sie zu stimmen?
Und bald erseufzt er: »Hin ist hin!
Vertrödelt ist verloren!
Die Scholle winkt, weh mir, ich bin
Zu früh, zu früh geboren!«

Noch eine zu früh geborene Dichterin (Eine Antwort an Annette von Droste-Hülshoff)

Drei Wochen früher kam ich an
und wollte hier nichts essen,
es schien mir wie der Hölle Wahn -
den Rest hab' ich vergessen…
Nur dass man hier nicht essen soll,
das raten uns die Mythen;
mit roten Fäustchen voller Groll
wollt' solches ich verhüten.
 
Doch wuchs ich auf, Annette gleich,
denn Leben will nur leben,
so wenig Jahre nach dem "Reich":
Die Hölle war es eben!
Die Seele noch so zart wie wild,
sie kämpfte sich nach oben,
doch soll den Tag man aufgewühlt
nicht vor dem Abend loben.
 
Ja, Bücher hab' ich auch geliebt,
sie geradezu verschlungen,
weil das der Seele Nahrung gibt
und Kraft fürs Spiel mit Jungen.
Mit denen ging es hoch hinauf
in Trauerweidens Äste;
Dort war ich wahrhaft obenauf,
die Zeit - war meine beste.
 
Nur selten kam Melancholie
als Gast aus alten Zeiten,
in Dunkelheit gehüllt wollt' sie
mir Angst wohl nicht bereiten;
So schauten wir zum Weiher hin,
geschmückt im Lichterglanze,
ein Nachtzug mit Musik im Sinn
bat murmelnd sie zum Tanze.
 
Doch jedes Tanzfest endet mal,
am Morgen kommt der Kater,
hinausgerissen, keine Wahl,
ich fiel in einen Krater;
Und fiel in einen langen Schlaf,
wär's traumlos bloß gewesen,
ich wurde zu dem schwarzen Schaf,
doch bin davon genesen.
 
Das Leben beinah' ausgebrannt,
den Leuchtturm mir zu suchen,
wie Moses in dem neuen Land,
wollt' ich mein Glück versuchen:
Und Schafe sollten's wieder sein,
die Hoffnungs Wolle tragen,
ein gold'nes Kalb war es allein,
verdammt bald zu verzagen.
 
Die Lieder und die Melodien
als Traum nur sind geblieben,
die Welt hat mir das nie verzieh'n -
ich wurde aufgerieben.
Doch suchte neuen Lebenszweck
mit neuen Perspektiven,
kam dennoch einfach nicht vom Fleck
und wurde ganz verkniffen.
 
Doch das, was immer in mir war,
was mir die Moiren schenkten,
das bot sich mir als Rettung dar,
was jene wohl so lenkten.
Nun schleudre ich der Dichtung Blitz
hernieder auf die Erde,
die immer noch der Seele Sitz,
dass bald befreit ich werde.
 
Ach, dies ist auch die Rettung nicht,
wie bin ich doch ermattet,
wo ist denn nur des Weihers Licht,
das von der Nacht umschattet?
Bald seufz ich auch mit "Hin ist hin!
Mein Leben ist verloren!"
Annette, sag, wo ist der Sinn?
Zu früh bin ich geboren!
 
 
(27.06.2022)

Das Original in der ersten Spalte stammt von Annette von Droste Hülshoff (1797 - 1848).