Tabu

In einem fernen Inselland,

da herrschte das Tabu,

wer Häuptlings Pfeil nahm in die Hand,

dem stieß ein Unheil zu.

 

Der Pfeil war voller Zauberkraft,

vom Häuptling selbst erweckt,

Berührung wurde streng bestraft,

man war dann "angesteckt".

 

Denn andere empfanden Neid,

sie hatten selbst auch Lust,

als Schutz vor solch Begehrlichkeit

der Frevler büßen musst'.

 

Oft tat man ihm dasselbe an,

wie das, was er getan,

nur nannte man es "Strafe" dann

und später "Zahn um Zahn".

 

Doch hat der Häuptling selbst berührt,

dann heilend war die Kraft,

Verehrung wurde so geschürt,

wenn auch nicht dauerhaft.

 

So war das ferne Inselland

von Zwang und Angst geplagt,

als trotzdem es im Meer verschwand,

hat man den Chef verjagt.

 

Nur das Tabu entkam versteckt,

getarnt als Religion,

doch Kult und Ritus, neu entdeckt,

war alt in der Funktion.

 

Es herrschte voller Grausamkeit,

gab auch ein wenig Halt,

doch half auch hier nicht gegen Leid,

so stürzte man es bald.

 

Der Mensch schien frei vom Würgeseil,

doch wenn der Tod uns droht,

dann folgen wir aus Angst dem Pfeil,

nur diesmal ist er – rot!

 

Und jeder, der hier aufbegehrt,

der ist fortan "tabu",

dem wird Gemeinschaft strikt verwehrt,

ist "ansteckend" dazu…

 

 

(13.01.2022)

 

 

 

 

Anmerkung: In seinem Werk "Totem und Tabu" verdeutlicht Sigmund Freud den Zusammenhang mit der Zwangsneurose und beschreibt, dass sich die Tabus oft auf Objekte oder Personen beziehen, die mit einer geheimnisvollen Kraft (Mana) aufgeladen sind. Berührt man sie von sich aus, muss man sterben, geht die Aktion aber vom Häuptling aus, hat sie eine Schutzwirkung wie auch später noch beim "Royal Touch" (siehe bei Wikipedia unter dem Stichwort "Skrofulose"). Wer nun das Tabu bricht, wird dadurch selbst tabu, hat die negative "Ladung" wie bei einer Ansteckung übernommen und ist fortan selbst "ansteckend". Damit ist jedoch vor allem die Versuchung gemeint, die von ihm ausgeht: Denn wo ein allgemeines Verbot vorliegt, muss auch ein allgemeiner Wunsch dahinterstecken. Nach der Übertretung kann der Vollstrecker dann (endlich) unter dem Deckmantel der Bestrafung dieselbe Tat begehen wie der Frevler (Beispiel: Todesstrafe für Mord). Interessanterweise beziehen sich viele Tabus auf Genussfähigkeit, Bewegungs- und Verkehrsfreiheit. Auch war es in großen Teilen der Welt verboten, gewisse Namen auszusprechen, die immer wieder durch neue Begriffe ersetzt wurden. So berichtete ein Missionar, dass während seines 7jährigen Aufenthalts in Südamerika der Begriff für "Jaguar" dreimal geändert werden musste, nachdem ein Stammesmitglied mit ähnlichem Namen verstorben war. Hintergrund dieser Geisterfurcht war übrigens die Projektion eigener unbewusster Feindseligkeit auf den Toten, gegen den man sich jetzt ohne Gewissensbisse wehren durfte. - So wie es scheint, war das menschliche Zusammenleben von Anfang an stark durch zwangsneurotische Handlungsweisen geprägt. Was daraus durch weitere Triebunterdrückung im Lauf der kulturellen Entwicklung bei gleichzeitiger Säkularisierung mit Verzicht auf religiöse Zeremonien entstehen muss, gibt Anlass zur Sorge… Tabus schaffen ein Gefühl der Gemeinschaft und vermeintlicher Sicherheit, mehr aber auch nicht.