An den Schmerz (Lou Andreas-Salomé)

Wer kann dich fliehn, den du ergriffen hast,
Wenn du das dunkle Auge auf ihn richtest?
Ich will nicht flüchten, wenn du mich· erfaßt,
– Ich glaube nimmer, daß du nur vernichtest.
Ich weiß, durch jedes Leben mußt du gehn
Und nichts bleibt unberührt von dir auf Erden,
Das Leben ohne dich – es wäre schön!
Und doch – du bist es wert, gelebt zu werden.
Gewiß, du bist nicht ein Gespenst der Nacht,
Du kommst, den Geist an seine Kraft zu mahnen,
Der Kampf ist’s, der die Größten groß gemacht,
– Der Kampf ums Ziel, auf unwegsamen Bahnen.
Und drum, kannst du mir nur für Glück und Lust
Das Eine, Schmerz: die echte Größe geben,
Dann komm, und laß uns ringen, Brust an Brust,
Dann komm, und sei es auch um Tod und Leben.
Dann greife in des Herzens tiefsten Raum
Und wühle in dem Innersten des Lebens,
Nimm hin der Täuschung und des Glückes Traum,
Nimm, was nicht wert war unbegrenzten Strebens.
Des Menschen letzter Sieger bleibst du nicht,
Ob er auch deinem Schlag die Brust entblöße,
Ob er im Tode auch zusammenbricht, –
– Du bist der Sockel für die Geistesgröße-.

An den Schmerz

"Gehst du zum Weib, vergiss die Peitsche nicht",
doch stand er selbst zu gern vor Deinem Karren,
dann ausgespannt, als Zarathustra spricht
er selbst von Schmerzen, die auch in ihm waren.
Warst Du sein Chaos, das den Stern gebar?
Die Schmerzen bist Du sicher nicht geflohen.
Des Leben Kraft durch sie entstanden war,
des Lebens Feuer kann durch sie erst lohen.
Oh nein, es ist kein Geist aus dunkler Nacht,
doch wünschten wir, zum Dämon ihn zu bannen,
dabei hat er Bewusstsein erst gebracht
und lässt das Licht des Wissens in uns ahnen.
Der Schmerz, die Lust - sind sie von andrer Art?
Gibt nicht ihr Maß den Dingen erst ihr Wesen?
Wir kämpfen gegen ihn, brutal und hart,
und hoffen, dass wir so von ihm genesen.
Die Harmonie das erste Opfer ist,
der Rhythmus unserer Welt springt aus den Fugen,
da sich der Schmerz nur an der Freude misst,
den wir so lange nur für sie ertrugen.
Willst du den Schatten töten, lösch das Licht,
dann wirst du endlich das Geheimnis kennen,
doch glücklich wirst du sicher damit nicht

und wünschtest nur im Lichte hell zu brennen.

 

 

(22.08.2022)


Das Original in der ersten Spalte stammt von Lou Andreas-Salomè (1861 - 1937).