Wer kann dich fliehn, den du ergriffen hast, |
Wenn du das dunkle Auge auf ihn richtest? |
Ich will nicht flüchten, wenn du mich· erfaßt, |
– Ich glaube nimmer, daß du nur vernichtest. |
Ich weiß, durch jedes Leben mußt du gehn |
Und nichts bleibt unberührt von dir auf Erden, |
Das Leben ohne dich – es wäre schön! |
Und doch – du bist es wert, gelebt zu werden. |
Gewiß, du bist nicht ein Gespenst der Nacht, |
Du kommst, den Geist an seine Kraft zu mahnen, |
Der Kampf ist’s, der die Größten groß gemacht, |
– Der Kampf ums Ziel, auf unwegsamen Bahnen. |
Und drum, kannst du mir nur für Glück und Lust |
Das Eine, Schmerz: die echte Größe geben, |
Dann komm, und laß uns ringen, Brust an Brust, |
Dann komm, und sei es auch um Tod und Leben. |
Dann greife in des Herzens tiefsten Raum |
Und wühle in dem Innersten des Lebens, |
Nimm hin der Täuschung und des Glückes Traum, |
Nimm, was nicht wert war unbegrenzten Strebens. |
Des Menschen letzter Sieger bleibst du nicht, |
Ob er auch deinem Schlag die Brust entblöße, |
Ob er im Tode auch zusammenbricht, – |
– Du bist der Sockel für die Geistesgröße-. |
"Gehst du zum Weib, vergiss die Peitsche nicht", |
doch stand er selbst zu gern vor Deinem Karren, |
dann ausgespannt, als Zarathustra spricht |
er selbst von Schmerzen, die auch in ihm waren. |
Warst Du sein Chaos, das den Stern gebar? |
Die Schmerzen bist Du sicher nicht geflohen. |
Des Leben Kraft durch sie entstanden war, |
des Lebens Feuer kann durch sie erst lohen. |
Oh nein, es ist kein Geist aus dunkler Nacht, |
doch wünschten wir, zum Dämon ihn zu bannen, |
dabei hat er Bewusstsein erst gebracht |
und lässt das Licht des Wissens in uns ahnen. |
Der Schmerz, die Lust - sind sie von andrer Art? |
Gibt nicht ihr Maß den Dingen erst ihr Wesen? |
Wir kämpfen gegen ihn, brutal und hart, |
und hoffen, dass wir so von ihm genesen. |
Die Harmonie das erste Opfer ist, |
der Rhythmus unserer Welt springt aus den Fugen, |
da sich der Schmerz nur an der Freude misst, |
den wir so lange nur für sie ertrugen. |
Willst du den Schatten töten, lösch das Licht, |
dann wirst du endlich das Geheimnis kennen, |
doch glücklich wirst du sicher damit nicht |
und wünschtest nur im Lichte hell zu brennen.
(22.08.2022) |
Das Original in der ersten Spalte stammt von Lou Andreas-Salomè (1861 - 1937).