Wie mag er aussehen? (Joachim Ringelnatz)

Wer hat zum Steuerbogenformular
den Text erfunden?
Ob der in jenen Stunden,
da er dies Wunderwirr gebar,
wohl ganz --- oder total --- war?
 
Du liest den Text. Du sinnst. Du spinnst.
Du grinst - "Welch Rinds" - Und du beginnst
wieder und wieder. Eisigkalt
kommt die Vision dir "Heilanstalt".
 
Für ihn? Für dich? - Dein Witz erblaßt.
Der Mann, der jenen Text verfaßt,
was mag er dünkeln oder wähnen?
Ahnt er denn nichts von Zeitverlust und Tränen?
 
Wir kommen nicht auf seine Spur.
Und er muß wohl so sein und bleiben.
Auf seinen Grabstein sollte man nur
den Text vom Steuerbogen schreiben.

Der Steuerexperte

Man kennt das Steuerformular,
doch weiß nicht, wer's erfunden…
Und hat selbst nie gefunden
den Sinn, der tief verborgen war,
in Lückenfelder großer Schar.
 
Man liest den Text, lacht unbedacht,
doch dessen Macht sich bald entfacht!
Versteht es meist mehr schlecht als recht,
das Paragraphen-Schlinggeflecht.
 
Für wen, von wem wurd' es erdacht,
hat der sich einen Spaß gemacht?
Wie zwanghaft muss ein Mensch nur sein,
dem solcherlei fällt einfach ein?
 
Auf seinem Grabstein sollte stehen,
dass er außergewöhnlich war
und, wie im Steuerrecht zu sehen,
dann als Belastung absetzbar.
 
 
(08.10.2022)
 

Das Original in der ersten Spalte stammt von Joachim Ringelnatz (1883 - 1934).