Das Lied des Selbstmörders (R. M. Rilke)

Also noch einen Augenblick.
Daß sie mir immer wieder den Strick
zerschneiden.
Neulich war ich so gut bereit,
und es war schon ein wenig Ewigkeit
in meinen Eingeweiden.
 
Halten sie mir den Löffel her,
diesen Löffel Leben.
Nein, ich will und ich will nicht mehr,
laßt mich mich übergeben.
 
Ich weiß, das Leben ist gar und gut,
und die Welt ist ein voller Topf,
aber mir geht es nicht ins Blut,
mir steigt es nur zu Kopf.
 
Andere nährt es, mich macht es krank;
begreift, daß man's verschmäht.
Mindestens ein Jahrtausend lang
brauch ich jetzt Diät.

Die Antwort des Selbstmörders

Die Ewigkeit ruht im Augenblick.
Es ist wohl immer derselbe Strick,
nicht zu zerschneiden…
Wir schwingen daran möglichst hoch hinauf
und geht es nicht höher, dann heißt es darauf:
Was für ein Leiden!
 
Das Schaukeln hört auf, wir werden ganz still,
es schlägt irgendwann auf den Magen.
Ja sicher, wer endlich den Frieden will,
muss - nichts - als den Tod ertragen.
 
Das Leben ist ungar, es siedet und wallt
und schenkt nur Verbrennungsschmerzen,
und darum halt' ich die Seele auch kalt -
bis etwas zerspringt im Herzen.
 
Andere nährt es? - Mich aber leert es,
was täglich neu gewählt.
Ich hänge im Nichts, den Strick zerbricht's,

wenn Ewigkeit einst fällt.

 

 

(19.07.2022)


Das Original in der ersten Spalte stammt von Rainer Maria Rilke (1875 - 1926).