Aus alten Märchen (Heinrich Heine)

Aus alten Märchen winkt es
Hervor mit weisser Hand,
Da singt es und da klingt es
Von einem Zauberland;
 
Wo bunte Blumen blühen
Im gold’nen Abendlicht,
Und lieblich duftend glühen,
Mit bräutlichem Gesicht;
 
Und grüne Bäume singen
Uralte Melodei’n,
Die Lüfte heimlich klingen,
Und Vögel schmettern drein;
 
Und Nebelbilder steigen
Wohl aus der Erd’ hervor,
Und tanzen luft’gen Reigen
Im wunderlichen Chor;
 
Und blaue Funken brennen
An jedem Blatt und Reis,
Und rote Lichter rennen
Im irren, wirren Kreis;
 
Und laute Quellen brechen
Aus wildem Marmorstein.
Und seltsam in den Bächen
Strahlt fort der Widerschein.
 
Ach, könnt’ ich dorthin kommen,
Und dort mein Herz erfreu’n,
Und aller Qual entnommen,
Und frei und selig sein!
 
Ach! jenes Land der Wonne,
Das seh’ ich oft im Traum,
Doch kommt die Morgensonne,
Zerfliesst’s wie eitel Schaum.

Nur ein Märchen?

In Märchen und in Sagen
nur gibt es jenes Land
aus glücklicheren Tagen,
das mit der Zeit entschwand…
 
Der Sonne gold'ne Strahlen
erfüllten es mit Licht,
nur Künstler könnten malen,
wie's farbenreich sich bricht
 
in Blumen und auf Blüten,
die ewig dort erblüh'n,
das Licht wird sie behüten,
dass niemals sie vergeh'n.
 
Der Wind liebkost sie sachte
und singt sein leises Lied,
das von weither er brachte,
wohin er wieder zieht…
 
Den Tau schenkt er am Morgen
und hebt in blaue Luft,
in seinem Arm geborgen,
den reinsten Rosenduft.
 
Und sprudelnd klare Quellen
mit ihrem Silberglanz
von Wundern gern erzählen
dem Kieselstein beim Tanz.
 
Wie golden scheint die Sonne,
wie silbern fließt der Bach.
Das Zeitalter der Wonne
hält nur ein Märchen wach.
 
Doch darf ich davon träumen:
im tiefsten Traum ich fand
in gut verborg'nen Räumen

das wundersame Land.

 

 

(09.08.2022)


Das Original in der ersten Spalte stammt von Heinrich Heine (1797 - 1856).