Angstgebet in Wohnungsnot (J. Ringelnatz)

Ach, lieber Gott, gib, daß sie nicht
Uns aus der Wohnung jagen.
Was soll ich ihr denn noch sagen –
Meiner Frau – in ihr verheultes Gesicht!?
 
Ich ringe meine Hände.
Weil ich keinen Ausweg fände,
Wenn's eines Tags so wirklich wär:
Bett, Kleider, Bücher, mein Sekretär –
Daß das auf der Straße stände.
 
Sollt ich's versetzen, verkaufen?
Ist all doch nötigstes Gerät.
Wir würden, einmal, die Not versaufen,
Und dann: wer weiß, was ich tät.
 
Ich hänge so an dem Bilde,
Das noch von meiner Großmama stammt.
Gott, gieße doch etwas Milde
Über das steinerne Wohnungsamt.
 
Wie meine Frau die Nacht durchweint,
Das barmt durch all meine Träume.
Gott, laß uns die lieben zwei Räume
Mit der Sonne, die vormittags hineinscheint.

Wohnungsnot

Zu wem fleh' ich nur, dass sie nicht
uns aus der Wohnung jagen?
Kein Recht, etwas zu sagen,
wenn Täter sitzen zu Gericht.
 
Sie können alles machen,
nachts saufen, ficken, lachen -
die anderen, von ihrer Art!
Doch uns alleine trifft es hart:
Haut ab, packt eure Sachen!
 
Wozu? Wohin soll'n wir sie tragen?
Als Aussätzige ins Asyl?
Das sollten wir mal wagen! -
Ein Ausweg bleibt, den ich nicht will…
 
Was soll ich mit Gefühlen?
Ein Puppenstubentraum vom Glück
gerät in ihre Mühlen
und bleibt als Sperrmüll bloß zurück.
 
Die Tränen trocken und versiegt
vom Rauch aus den Kaminen…
Passt auf, ihr werdet's sühnen,

wenn euch das böse Karma kriegt!

 

 

(27.07.2022)


Das Original in der ersten Spalte stammt von Joachim Ringelnatz (1883 - 1934).

Das Bild zur Nachdichtung inmitten einer städtischen "Umweltzone" und "guter Wohnlage". Quadratmeterpreis laut Mietrichtwert-Tabelle vom 1. Dezember 2021: 10,83 Euro.