Ach, wär' ich doch ein stolzer Greif
am Himmel völlig frei,
durch grüne Täler ich dann schweif'
mit wildem Vogelschrei.
Ach, wär' ich doch ein starker Bär
im tiefen, dunklen Wald,
ein jedes Tier erwies mir Ehr',
wenn mein Gebrüll erschallt.
Ach, wär' ich doch ein flinker Hecht
im reinen, klaren Fluss,
ich lebte nach dem eignen Recht,
weil ich es will, nicht muss.
Doch eine Biene bin ich nur,
ernähr' die Königin,
und Dienst in ihrer Staatskultur
nennt sie dann Lebenssinn.
Und ihr? Wollt Ameisen ihr sein?
Oh nein, ich glaube kaum,
wenn Greif und Bär und Hecht allein
erfüllen jenen Traum.
(09.08.2022)
Anmerkung: In "Das Unbehagen in der Kultur" (Teil VII) schrieb Sigmund Freud 1930, dass es bezeichnend für den gegenwärtigen Zustand sei, dass sich niemand in Bienen- oder Ameisenstaaten mit der ihm zugeteilten Rolle glücklich fühlen würde. Die Kultur versuche, die Menschen zu einer innig verbundenen Masse zu vereinen (vergleiche den derzeit überstrapazierten Begriff der "Gemeinsamkeit"), was aufgrund des erforderlichen Trieb- und Aggressionsverzichts nur auf dem Weg eines immer weiter anwachsenden Schuldgefühls erreicht werden könne, welches sich dann in verstärkten Selbstbestrafungstendenzen entlade. Dieses Ziel verfolge sie ohne Rücksicht auf das Glück des Einzelnen und ohne ihr Versprechen zu halten, ihre Mitglieder vor Naturgewalten, Krankheit oder Tod zu schützen.